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Zum Einsatz des Rückenmarkszerstörers bei der Nottötung von Rindern

Dr. Ingrid Schütt-Abraham, 15.10.2001
(letzte Änderung 11.05.2003)

Gliederung


Bolzenschuss und Rückenmarkszerstörung - ein ideales Tötungsverfahren

Die Bolzenschussbetäubung mit anschließendem Gebrauch des Rückenmarkszerstörers führt zum sofortigen und irreversiblen Verlust des Bewusstseins. Diese Kombination entspricht in idealer Weise den Anforderungen des Tierschutzes und darf daher auch ohne nachfolgenden Blutentzug zur Tötung von Rindern eingesetzt werden (Anlage 3 Teil II Nr. 1.2 Tierschutz-Schlachtverordnung - TierSchlV).

Warum wurde der Rückenmarkszerstörer bei der Schlachtung verboten?

Bei der Schlachtung von Rindern, d.h. ihrer Tötung zum Zwecke der Fleischgewinnung, ist die Verwendung des Rückenmarkszerstörers demgegenüber seit dem 01.01.2001 in allen Mitgliedstaaten der EG und seit dem 01.04.2001 auch für Fleischimporte aus Drittländern verboten (Entscheidung 2000/418/EG, umgesetzt für Schlachtungen im Inland in Anlage 2 Kapitel III Nr. 2.1a der Fleischhygiene-Verordnung - FlHV-, für Drittlandimporte in Anlage 3 Nr. 5 FlHV). Dieses Verbot wurde in der Verordnung 999/2001/EG und ihren nachfolgenden Änderungen, der Verordnung (EG) 1248/2001, der Verordnung (EG) 1326/2001 und der Verordnung (EG) 270/2002 wiederaufgenommen, welche die Entscheidung 2000/418/EG ablöste. Das Verbot gründet sich auf den Nachweis der Verschleppung von Zentralnervengewebsfragmenten in den Körperkreislauf, insbesondere die Lunge, durch den Einsatz des Rückenmarkszerstörers.

In allen Ländern, die nicht BSE-frei sind, können BSE-infizierte Rinder unerkannt zur Schlachtung gelangen. Die in Deutschland bei allen über 24 Monate alten Rindern durchzuführenden BSE-Tests sind zwar ein gutes Mittel, um Tiere zu erkennen, die sich im Spätstadium der Inkubationszeit befinden und deren Gehirne daher bereits hoch infektiös sein können. Die Tests können aber wegen ihrer geringen Empfindlichkeit auch bei negativem Ergebnis keine BSE-Freiheit garantieren. Daher kann das Risiko einer Verschleppung möglicherweise vorhandener Erreger in essbare Gewebe aus Vorsorgegründen nicht hingenommen werden. Dies gilt um so mehr, als die aus Gründen des Arbeitsschutzes gewünschte Reflexlosigkeit bolzenschussbetäubter Rinder auch durch andere Verfahren wie die Elektroimmobilisation ersetzt werden kann. Bei korrekter Betäubung und Entblutung (Durchführung des Entblutungsschnittes innerhalb 60 Sekunden nach dem Bolzenschuss unter Durchtrennung beider Halsschlagadern) steht eine Wiederkehr des Bewusstseins auch ohne Verwendung des Rückenmarkszerstörers nicht zu befürchten. (Dass grundsätzlich bei jedem mit einer Zerstörung von Gehirn und Rückenmarksgewebe einhergehenden Verfahren, d.h. auch bei der konventionellen Bolzenschussbetäubung allein, mit einer solchen Verschleppung gerechnet werden muss, wurde bereits an anderer Stelle diskutiert und soll in diesem Zusammenhang nicht näher ausgeführt werden).

Darf der Rückenmarkszerstörer bei der Tötung noch verwendet werden?

Das Verbot der Verwendung des Rückenmarkszerstörers gilt nur für die Schlachtung und die Notschlachtung, nicht aber für die Tötung oder Nottötung von Rindern. Da bei getöteten bzw. notgetöteten Rindern die spezifischen Risikomaterialien (SRM) nicht entfernt sind, sind ihre Tierkörper im Ganzen als potentiell infektiös anzusehen und zu vernichten.Für diese Tiere stellt die Betäubung mit Bolzenschuss und anschließender Rückenmarkszerstörung daher nach wie vor ein geeignetes und zulässiges Tötungsverfahren dar, sofern die Tiere nicht auf BSE getestet werden müssen. Bei zu testenden Tieren behindert der Einsatz des Rückenmarkzerstörers die Probenahme für den vorgeschriebenen BSE-Test (Zerstörung der für die Untersuchung wichtigen Hirnregionen und Verteilung des zu testenden Bereiches auf andere Abschnitte des Zentralnervensystems) und sollte daher nicht mehr zum Einsatz kommen.

Wiederverwendbare Rückenmarkszerstörer bergen Gefahren

Rückenmarkszerstörer sind allerdings nach ihrem Gebrauch als potentiell BSE-kontaminiert zu betrachten, da ihnen Spuren von ZNS-Gewebe anhaften. Dadurch stellen sie zudem eine Kontaminationsgefahr für ihre Umgebung dar. Wiederverwendbare Rückenmarkszerstörer müssten aus diesem Grund nach Gebrauch einem Desinfektionsverfahren unterzogen werden, das BSE-Erreger unschädlich macht. Die in dieser Hinsicht wirksamen und zugelassenen Desinfektionsmittel (2 N Natronlauge und Natriumhypochlorit) sind jedoch sehr aggressiv und daher auch für den Anwender gefährlich. Die Durchführung einer solchen Desinfektion bei Tiertransporten und in landwirtschaftlichen Betrieben wäre mit erheblichen Problemen verbunden.

Aus diesem Grund hat sich das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) in seiner Stellungnahme vom 15. Januar 2001 zu Tötungsverfahren im Hinblick auf den Bundesmaßnahmenkatalog nach Tierseuchenrecht klar für die Verwendung von Einmal-Rückenmarkszerstörern bei Rindern ausgesprochen, die während eines Transportes notgetötet werden müssen.

Einmal verwendbare Rückenmarkszerstörer beugen einer Kontaminationsgefahr vor

Im Handel sind zur einmaligen Verwendung bestimmte Rückenmarkszerstörer aus Kunststoff erhältlich, die nach Gebrauch im Tier verbleiben und zusammen mit ihm vernichtet werden. Sie stellen daher keine Kontaminationsgefahr für ihre Umgebung dar.

Als Beispiel eines solchen Einmal-Rückenmarkszerstörers sei hier der patentierte Rückenmarkszerstörer der Firma Operating Platforms Ltd, Bristol, UK (Havard House, 149 Claverham Road, Claverham, Bristol, BS 49 4 LH, UK) beschrieben. Der Stab ist insgesamt 78 cm lang und besteht aus biegsamem blauem Kunststoff. Sein im Querschnitt x-förmiger Schaft hat einen Durchmesser von 0,6 cm. Während sein vorderes, in den Rückenmarkskanal einzuführendes Ende in einen massiven Knopf ausläuft, mündet das andere Ende in einer Kopfscheibe von 4,7 cm Durchmesser. Ca. 2 cm unterhalb dieser Scheibe verbreitert sich der Schaft durch 5 paarweise angeordnete Widerhaken auf einen Durchmesser von 2 cm. Zwischen diesen Widerhaken und der die Einschussöffnung verschließenden Scheibe befindet sich zur Abdichtung ein breiter Schaumstoffring nach Art eines haushaltsüblichen Tropfenfängers.

Aufgrund dieser Konstruktion trägt der eingeführte Rückenmarkszerstörer zusätzlich zu einer Abdichtung des vom Bolzen gesetzten Schussloches bei. Die Widerhaken erschweren ein Herausrutschen des Schaftes, und der Schaumstoffring saugt sogar eine begrenzte Flüssigkeitsmenge auf. Zur Wirksamkeit dieses Verschlusses unter Praxisbedingungen liegen bisher keine Untersuchungsergebnisse vor. Dennoch dürfte sich das Risiko des Austritts von ZNS und Zerebrospinalflüssigkeit während des Transports zur Tierkörperbeseitigungsanstalt deutlich verringern. Eine 100%ige Abdichtung kann jedoch auch mit diesem Verfahren nicht garantiert werden.

Einmal-Rückenmarkszerstörer sollen im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland (UK) regelmäßig zur Tötung von über 30 Monate alten Rindern im Herkunftsbestand eingesetzt werden. Rinder dieser Altersklasse sind im UK von der Lebensmittelgewinnung ausgeschlossen, weshalb sich ihre Schlachtung und damit auch Transport zum Schlachthof erübrigt.

Die schwerwiegenden Zerstörungen von Gehirn und Medulla oblongata, die bei Verwendung eines Rückenmarkszerstörers unvermeidlich sind, können die Auswahl geeigneter BSE-Testverfahren einschränken. Sie können zudem wegen des entstehenden Gewebebreis, der bestimmten Hirnstrukturen nicht mehr klar zuzuordnen ist, weil sich verschiedene Gehirnbereiche durchmischen, den BSE-Nachweis erschweren. (Im Schlachthof wird für die BSE-Tests ein ganz bestimmter Hirnbereich, der Obex, entnommen, weil in diesem Bereich des Gehirns die Infektion zuerst nachweisbar ist. Ist die dort vorliegende Konzentration an proteinaseresistentem Prionprotein noch gering, könnte sie bei Durchmischung mit noch nicht befallenen Gehirnbereichen aufgrund der Verdünnung ggf. nicht mehr nachgewiesen werden). Dies spielte im Vereinigten Königreich bislang keine Rolle, da dort über 30 Monate alte Rinder nicht routinemäßig getestet zu werden brauchten, weil sie im Rahmen des sog. OTMS-Programms (Over Three Month Scheme) in jedem Fall aus der Lebensmittelkette entfernt und vernichtet wurden.

Welche Tötungsverfahren können sonst noch eingesetzt werden?

Die Tierschutz-Schlachtverordnung lässt in Übereinstimmung mit der Richtlinie 93/119/EG alternativ Tötungsverfahren wie die Elektrotötung oder die Injektion eines Stoffes mit betäubender Wirkung ("Einschläfern") zu. Beide Verfahren würden die für den BSE-Test benötigten Gehirnstrukturen unbeschädigt lassen, sind aber - im Gegensatz zu Bolzenschussgerät und Rückenmarkszerstörer - auf Transporten nicht gut mitführbar und daher in Notfällen häufig nicht rechtzeitig zur Hand. Darüber hinaus benötigt man für die Elektrotötung einen Stromanschluss, der auf offener Straße oder Weide in der Regel nicht zur Verfügung steht. Stoffe mit Betäubungswirkung dürfen nur vom Tierarzt eingesetzt werden. Für bestimmte Mittel, die speziellen Betäubungsmittelvorschriften unterliegen, gelten darüber hinaus weitere Auflagen, die ihre Verwendung aufwändiger und teurer machen.

Zitierte Rechtstexte

Richtlinie 93/119/EG: Richtlinie 93/119/EG des Rates vom 22. Dezember 1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 340/21 vom 31/12/1993

Entscheidung 2000/418/EG: Entscheidung (2000/418/EG)der Kommission vom 29. Juni 2000 zur Regelung der Verwendung von bestimmtem Tiermaterial angesichts des Risikos der Übertragung von TSE-Erregern und zur Änderung der Entscheidung 94/474/EG. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 158/76 vom 30.06.2000

Verordnung (EG) Nr. 999/2001: Verordnung (EG) Nr. 999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 mit Vorschriften zur Verhütung, Kontrolle und Tilgung bestimmter transmissibler spongiformer Enzephalopathien. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 147/1 vom 31.5.2001

Verordnung (EG) Nr. 1248/2001: Verordnung (EG) Nr. 1248/2001 der Kommission vom 22. Juni 2001 zur Änderung der Anhänge III, X und XI der Verordnung (EG) Nr. 999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf die epidemiologische Überwachung transmissibler spongiformer Enzephalopathien und die entsprechenden Nachweistests. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 173/2 vom 27.6.2001

Verordnung (EG) Nr. 1326/2001: Verordnung (EG) Nr. 1326/2001 der Kommission vom 29. Juni 2001 mit Übergangsmaßnahmen zur Erleichterung des Übergangs zur Verordnung (EG) Nr. 999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften zur Verhütung, Bekämpfung und Tilgung bestimmter transmissibler spongiformer Enzephalopathien (TSE) sowie zur Änderung der Anhänge VII und XI dieser Verordnung. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 177/60 vom 30.6.2001

Verordnung (EG) 270/2002: Verordnung (EG) Nr.270/2002 der Kommission vom 14.Februar 2002 zur Änderung der Verordnung (EG)Nr.999/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf spezifizierte Risikomaterialien und die epidemiologische Überwachung auf bestimmte transmissible spongiforme Enzephalopathien sowie zur Änderung der Verordnung (EG)Nr.1326/2001 in Bezug auf Futtermittel und das Inverkehrbringen von Schafen und Ziegen sowie daraus gewonnenen Produkten. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 45/4 vom 15.02.2002

Fleischhygiene-Verordnung: Verordnung über die hygienischen Anforderungen und amtlichen Untersuchungen beim Verkehr mit Fleisch (Fleischhygiene-Verordnung - FlHV) vom 30. Oktober 1986 (BGBl. I S. 1678) in der Fassung der Bekanntmachung vom 29. Juni 2001 (BGBl I S. 1366)

Tierschutz-Schlachtverordnung: Verordnung zum Schutz von Tieren im Zusammenhang mit der Schlachtung oder Tötung (Tierschutz-Schlachtverordnung - TierSchlV) vom 3. März 1997 (BGBl I S. 405), geändert durch Verordnung vom 25. November 1999 (BGBl I S. 2392)

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